Anlässlich der gerade immer wieder tagenden Enquetekommission zur Aufarbeitung der Pandemie hat Kristina Schröder in der Welt 12 Fragen gestellt, die es zu beantworten gälte. Bevor wir zum Überbau kommen, lohnt es sich aber doch, sich die Fragen im einzelnen anzusehen, und die Leerstellen und Auslassungen sichtbar zu machen, mit denen sie arbeitet.

Der Fragenkatalog

Frage 1: „Herr Professor Drosten, Sie gaben Eltern in Ihrem Podcast ja immer die beruhigende Sicherheit, dass Kinder durch das Virus nie in besonderem Maß gefährdet waren. Auch dem RKI lag diese Information früh vor. Gleichzeitig gingen die Schulschließungen maßgeblich auf Ihren Rat zurück. Heißt das, dass primäres Ziel dieser Maßnahme nie der Schutz von Kindern war?“

In den Vorannahmen verstecken sich schon zwei Fehler: erstens war zu Beginn der Pandemie nicht klar, wer wie gefährdet sein würde: auch nicht, wie gefährdet Kinder waren. Es ist im übrigen bis heute nicht klar, welche Langzeitfolgen das Virus haben wird; die enorme Zunahme von neurodegenerativen Erkrankungen in Verbindung mit dem Virus geben da aber immerhin zarte Hinweise. Zweitens gehen die Schulschließungen nicht auf den Rat Christian Drostens zurück, sondern waren eine politische Entscheidung: um die Reproduktionszahl in einem Rahmen zu halten, der den Zusammenbruch des Gesundheitssystems unwahrscheinlich macht, mussten relevante Teile des öffentlichen Lebens eingeschränkt werden. Die damalige Bundesregierung wollte, um den Wirtschaftsstandort D nicht zu gefährden, die Arbeitsstätten offen lassen; also musste anderes zugesperrt werden, gerade im Bereich Freizeit und Schule.

Die Antwort auf die Frage ist Ja. Es ging darum, die R-Zahl bei eins zu halten.

Zum Überbau: Kristina Schröder stellt hier eine Frage, die schon hundertfach beantwortet wurde, unter anderem von Christian Drosten selbst im Zuge der – Überraschung – letzten Sitzung der Enquete-Kommission. Das ist nur wenige Wochen her. Es sagt einiges zur intellektuellen Redlichkeit Kristina Schröders, dass sie diese Antwort ignoriert und so tut, als wäre das nach wie vor eine offene Frage.

Die Frage funktioniert nur, weil sie mitlaufen lässt, dass das Virus für Kinder nicht gefährlich sei: Das ist in mehrerlei Hinsicht nicht der Fall. Es wird postmodernen Linken ja sehr oft vorgeworfen, nicht die Gesellschaft im Blick zu haben, sondern immer nur einzelne Gruppen zu adressieren:

Frage 2: „Frau Professor Buyx, als ehemalige Vorsitzende des Ethikrats kennen Sie Immanuel Kants Verzweckungsverbot: Ein Mensch darf niemals nur als Mittel zur Verfolgung kollektiver Zwecke behandelt werden, als bloßes Objekt staatlichen Handelns. Waren Sie während der Pandemie der Auffassung, dass wir insbesondere gegenüber Kindern und Jugendlichen dieser Maxime gerecht wurden?“

Alena Buyx hat mehrfach betont, dass der Ethikrat die Interessen der Kinder und Jugendlichen in ihrer Zeit als Vorsitzende nicht genug auf dem Schirm hatte. Ansonsten scheint mir das maßgebliche Problem zu sein, dass Kristina Schröder nicht verstanden hat, was es mit dem Verzweckungsverbot auf sich hat.

(Ich muss hier vorausschicken, dass ich weder Philosoph noch Jurist bin, Kant höchstens oberflächlich gelesen habe, aber sozusagen in einer sekundären Beschäftigung über Existenzialismus, Foucault und Bourdieu einen Zugang zu der Thematik habe; mein erster Impuls war zu denken, dass Kristina Schröder hier eigentlich lieber Ayn Rand zitiert hätte, aber Kant halt besser klingt. Aber das ist nur ein feuilletonistischer Verdacht.)

Das Verzweckungsverbot ist ein Begriff aus Kants Strafrechtstheorie, die sozusagen als Basis des liberalen Rechtsstaates dienen kann, wie Schröder das ja auch verwendet. Dem Verzeckungsverbot voraus geht also die kantsche Prämisse, dass „der rechtliche Zustand dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander (ist), welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.“

Was also nicht geht, ist, die Rechte der Kinder und Jugendlichen gegen die anderer Bevölkerungsgruppen auszuspielen; zum Beispiel, ganz konkret, deren Recht auf Überleben. In Schröders Denken werden die Interessen von Kinder und Jugendlichen erstens absolut gesetzt und zweitens wird so getan, als wären die Bedingungen der vorpandemischen Realität in ihrem Sinne.

Richtig ist: Der Staat hat die Schulen geschlossen und die Freizeitmöglichkeiten stark begrenzt. Er hat gleichzeitig nicht den Leistungsdruck von den Jugendlichen genommen. Es wurde weiterhin benotet, ein Karenzjahr oder dergleichen war nicht vorgesehen. Er hat sozusagen die Schulen als sozialen Ort geschlossen, ohne die repressive Idee der Schulen zu beanstanden. Das ist natürlich ein Problem, eine Ungerechtigkeit, hat aber ideologische Gründe: die Wirtschaft braucht den Nachstrom der Schulabgänger*innen. Diese philosophisch grundierte gespielte Menschlichkeit, die Schröder hier aufführt, hat ihren Ursprung in einem kompletten Desinteresse an dem, was tatsächlich passiert ist.

Frage 3: „Herr Professor Harbarth, in dem von Ihnen als Präsident verantworteten Urteil, in dem die Schulschließungen vollumfänglich gebilligt wurden, erkennen Sie an, dass Kinder nicht nennenswert gefährdet waren und unter Umständen lebenslangen Schaden davon trugen. Gilt aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts das Verzweckungsverbot nicht für Kinder?“

Das BVerfG urteilte, dass auch die Schulschließungen „in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie“ mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen seien. In ihrer Gesamtheit hätten sie dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen gedient. An dieser Stelle kann Kristina Schröder vielleicht ein neues Konzept lernen: die Rechtsgüterabwägung.

Dass die Interessen der Wirtschaft politisch gegen jene der Schüler*innen sich durchsetzten, ist ja tatsächlich ein Skandal und stellt ernsthafte Fragen: aber an die Politik, nicht an das Bundesverfassungsgericht.

Frage 4: „Herr Professor Papier, Sie sagten im Oktober 2024, das Bundesverfassungsgericht habe während der Pandemie „Rechtsschutzverweigerung“ betrieben. Für einen ehemaligen Präsidenten dieses Verfassungsorgans ist das eine ungewöhnlich drastische Aussage. Können Sie das noch einmal erläutern?“

So ungewöhnlich drastisch ist diese Aussage gar nicht. Papier äußerte dieses Urteil in einer Podiumsdiskussion nach einem Vortrag. Im Zusammenhang sagte er: „Ich habe das Versagen der Judikative damit begründet, dass sie insbesondere der Exekutive nicht rechtzeitig aufgegeben hat, für eine gesichertere Datenbasis zu sorgen, damit eben in absehbarer Zeit eine wirklich genauere Beurteilung der wirklichen Gefahrenlage, aber auch der Geeignetheit, der Effektivität, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit der einzelnen Schutzmaßnahmen möglich wird. Das hätte man in den Eilentscheidungen machen können, diese Anordnung treffen, aber es fehlte eben, wenn ich so sagen darf, der Mut. So, dass das alles dann […] letztlich endete in einer großen Rechtsschutzverweigerung.“

Dass es diese Datenlage nicht gab und auch nicht in der Geschwindigkeit, die Papier gerne gehabt hätte, geben konnte, ist der maßgeblich Einwand gegen dieses Urteil von Papier.

Frage 5: „Herr Tegnell, was hat sie als schwedischen Staatsepidemiologen bewogen, die Schulen bis Klasse 10 während der gesamten Pandemie offenzulassen? (Und, Herr Tegnell, kleine Nachfrage, wo wir Sie schon mal hier haben: Studien zeigen ja inzwischen, dass Schweden insgesamt eine geringere Übersterblichkeit hatte als Deutschland. Hat sich Karl Lauterbach für seine Aussage, Sie hätten während der Pandemie „fast immer falsch gelegen“, eigentlich mal entschuldigt?)“

Schweden verfolgte eine Durchseuchungsstrategie zur Herstellung einer Herdenimmunität. Dafür brauchte es die Schulen als Drehkreuze des Virus.

Was die Übersterblichkeit anbelangt, macht ein Vergleich mit Deutschland wenig Sinn, weil Schweden zum Beispiel sehr viel dünner besiedelt ist. Für die ersten Welle kamen auch Untersuchungen der schwedischen Regierung zu der Einschätzung, dass die Mortalität zu Beginn der Pandemie im Vergleich zu ähnlich strukturierten Ländern (verglichen wurden die Zahlen mit Dänemark, Norwegen und Finnland) signifikant erhöht war. Auch wenn in der zweiten Welle die Übersterblichkeit in Dänemark und Norwegen höher lag als in Schweden, hat Schweden eine überdurchschnittliche Todesrate; hätte Tegnell sich mit seinen Ideen durchgesetzt, wären auch staatlich organisierte Covid-Partys (analog zu Masern-Partys) möglich gewesen; zu einem Zeitpunkt, als niemand wusste, welche Langzeitfolgen das Virus hat.

Frage 6: „Herr Spahn, während der Pandemie befand sich Deutschland datentechnisch weitgehend im Blindflug. Warum haben Sie nicht gleich zu Beginn eine nationale Kohortenstudie mit vielleicht 3000 zufällig ausgewählten Bürgern aufgelegt, um anhand der Seroprävalenz nachzuvollziehen, wie sich das Virus verbreitet, wie Immunität entsteht und welche Risikofaktoren wirklich zählen?“

Um Himmels Willen. Dieser Vorschlag ist derart abwegig, darauf kann man unmöglich antworten. Allein schon die Vorstellung, dass sich so Immunität nachweisen lässt bei einem Virus, das fortwährend mutiert, ist derart quatschig, dass man meinen könnte, Schröder habe sich noch nie mit der Verbreitung von Covid19 beschäftigt.

Allerdings stimmt, dass es in Deutschland große Probleme mit dem Datenfluss gab, weil die Gesundheitsämterinfrastruktur nicht vorbereitet war.

Frage 7: „Herr Professor Wieler, Sie betonten stets, als RKI-Präsident weisungsgebunden gegenüber der Bundesregierung gewesen zu sein. Wie passt das damit zusammen, dass Sie Ende 2020 selbst einen Aufruf der Leopoldina unterzeichneten, in dem Sie die Bundesregierung zu „einem harten Lockdown“ aufforderten?

Gegenfrage: Inwiefern passt das nicht zusammen? Wir sind ja nicht beim Militär.

Frage 8: „Herr Bischof Bedford-Strom, alte Menschen wurden über Monate isoliert, oft auch gegen ihren Willen. Wäre es nicht originäre Aufgabe der Kirche gewesen, darauf hinzuweisen, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt – und eben auch nicht allein von physischer Gesundheit?“

Damit der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt, muss er erstmal leben. Wir hatten vor der Impfung auf Altenheimstationen, in die das Virus eingetragen wurde, Sterberaten von bis zu 70 Prozent. Wahr ist, dass die Heime zu totalen Institutionen rückgebaut wurden, die quasi von der Umwelt komplett abgeschottet wurden: übrigens eine Entwicklung, der Kristina Schröder in ihrem Willen, Geld im Sozialen einzusparen, auch jetzt Vorschub leistet. Dazu später mehr.

Frage 9: „Herr Hans, von Ihnen als damaligem saarländischem Ministerpräsidenten stammt der Satz über Ungeimpfte „Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben.“ Wie meinten Sie das eigentlich?“

Der Satz war nicht als Feststellung gemeint, sondern als Botschaft. Das war allerdings zugegebenermaßen kein Glanzstück politischer Kommunikation. Die Realität aber ist: Nicht die Nicht-Geimpften waren jemals raus aus dem gesellschaftlichen Leben, sondern die Risikogruppen.

Frage 10: „Herr Buhrow, was sagen Sie als ehemaliger ARD-Vorsitzender zu der Kritik, die deutschen Medien und insbesondere der ÖRR hätten in ihrer Pandemie-Berichterstattung fast immer gefragt: „Reicht das?“, fast nie: „Ist das zu viel?“?“

Diese Kritik entbehrt jeder Grundlage. Hauptsache, Schröder hat dem ganzen Narrativ des „Staatsfunks“ noch ein Kapitel hinzugefügt.

Frage 11: „Herr Bundeskanzler Scholz, im Dezember 2021, also zu einem Zeitpunkt, als viele europäische Länder ihre Maßnahmen bereits weitgehend beendet hatten, sagten Sie, in der Pandemiebekämpfung dürfe es „keine roten Linien geben“. Wie passt das mit Artikel 19 unserer Verfassung zusammen, nach dem Grundrechte „in ihrem Wesensgehalt“ niemals angetastet werden dürfen?“

Im Dezember 2021 waren in keinem europäischen Land Maßnahmen der Pandemiebekämpfung beendet; sie sind es übrigens bis heute nicht. Olaf Scholz meinte damit im übrigen, dass wenn sich die pandemische Lage verändere, man nicht kategorisch Maßnahmen vorab ausschließen könne. Dass er damit sagen wollte, er wolle die Verfassung außer Kraft setzen, ist schlicht grober Unfug.

Frage 12: „Frau Bundeskanzlerin Merkel, über 300.000 Menschen mussten in Deutschland allein sterben, psychische Erkrankungen unter Kindern und Jugendlichen sind sprunghaft angestiegen, und ein ganzes Land wurde zwei Jahre lang lahmgelegt – glauben Sie, dass summa summarum, auch unter Einbeziehung der langfristigen Folgen, durch die Corona-Maßnahmen mehr Nutzen als Schaden erzielt wurde?“

Dass 300.000 Menschen „allein“ sterben mussten, stimmt nicht; dass das Land lahmgelegt wurde, auch nicht. Im Gegenteil war ja eines der Probleme, dass das Land nicht „lahmgelegt“ wurde, dass es also ein Primat der Wirtschaft über Kinder, Jugendliche und Risikogruppen gab. Wenn Frau Schröder wissen will, wie ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems ausgesehen hätte, würde ich eine Recherchereise nach Brasilien empfehlen: wird aber schwierig, für so ein Foschungsvorhaben Geld aus den gleichen Töpfen zu bekommen, die sie jetzt finanzieren.

Der größere Rahmen

Einige Tage vor ihren Fragen hat Kristina Schröder, ebenfalls in einer Welt-Kolumne, die Beendigung der Inklusion gefordert, weil: zu teuer. Konkret will sie kommunal finanzierte Assistenzen für Menschen mit Behinderung abschaffen. Abgesehen von einigen sachlichen Fehlern im Text (zum Beispiel hat sich nicht Deutschland für einen weiten Behinderungsbegriff entschieden, sondern in der Behindertenrechtskonvention der UN, die D ratifiziert hat, wird das Menschenrechtsmodell etabliert, dem sich D wie alle anderen ratifiziert habenden Länder auch angeschlossen hat) offenbart sich noch mehr.

Die Zahlenkolonnen, die Schröder anführt, erinnern durchaus an Mathematikaufgaben, die in NS-Schulbüchern zu finden waren. Ein Beispiel:

Der jährliche Aufwand des Staates für einen Geisteskranken beträgt im Durchschnitt 766 RM; ein Tauber oder Blinder kostet 615 RM, ein Krüppel 600 RM. In geschlossenen Anstalten werden auf Staatskosten versorgt:167 000 Geisteskranke, 8 300 Taube und Blinde, 20 600 Krüppel.

Wieviel Mill. RM kosten diese Gebrechlichen jährlich?

Wieviel erbgesunde Familien könnten bei 60 RM durchschnittlicher Monatsmiete für diese Summe untergebracht werden?

Die Leerstelle, die diese ökonomischen Erwägungen lassen, liegt nicht nur in der Inhumanisierung. Sie liegt auch darin, dass sie beliebig erweiterbar ist, ein Fass ohne Boden. Was, wenn wieder das Geld ausgeht – sind dann die Einrichtungen zu teuer? Die Alten? Wer noch? Wer produziert nicht genug?

Das ist keine theoretischen Überlegungen. Es gibt konkrete historische Referenzen. Die NS-Administration wartete bis 1939, um die verschiedenen Vernichtungsaktionen (darunter auch die Aktion T4) zu starten, weil sie die Gegenwehr der Kirche fürchteten. Es hat im übrigen auch nie eine gesetzliche Grundlage für die Ermordung behinderter Menschen gegeben, nur einen Brief Adolf Hitlers, in der er jene gut hieß. Der Brief stammte aus dem Oktober 1939 und wurde rückdatiert auf den 01.09.1939, um eine direkte Verbindung herzustellen zum Kriegsbeginn: da das deutsche Volk nun wegen der Kriegsanstrengungen verzichten musste, waren Menschen mit Behinderung ökonomisch nicht mehr tragbar. Tatsächlich nicht und auch nicht diskursiv. Es ist antifaschistisch, das Recht jedes Menschen auf Überleben zu verteidigen.

Es wäre aber ein Fehler, den Willen zur Exklusion, die dann in die sogenannte Euthanasie führte, allein bei den Nazis zu suchen. Maßgeblich die im übrigen seit den 1880er laufende Diskussion (die just in dem Moment aufkam, als die Psychiatrie die Arbeit im Bereich Menschen mit Behinderung aufnahm) beeinflußt hat das Pamphlet „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von Binding und Hoche. Beide gehörten zur Elite des Kaiserreichs, und zumindest was Binding anbelangt, kann man sagen, dass er Gegner des Nationalsozialismus war (Hoche starb bereits 1920).

Mit den Vernichtungsaktionen der Nazis (unter Mithilfe der Ärzt*innenschaft, der Pfleger*innen und auch der Kirchen und auch unter dem mindestens akzeptierenden Schweigen der Bevölkerung – die Vernichtungsanstalten standen mitten in Deutschland, die Asche der verbrannten Leichen regnete auf die Vorgärten der umliegenden Dörfer und Städte) kamen diese Überlegungen zu einem logischen Ende.

Ca 330.000 Menschen fanden in der NS-Euthanasie den Tod. Sie gelten bis heute nur als Opfer des NS-Regimes, nicht als Verfolgte. In einem Interview über seine in Hadamar ermordete Großmutter sagte mir Andreas Hechler:

„Der Firnis der Zivilisation ist sehr dünn. Das wurde auch während der Corona-Pandemie deutlich, in der wir in Windeseile eine Triage-Diskussion hatten. Die aktuelle Sterbehilfedebatte ist dafür auch ein gutes Beispiel: Dass da völlig losgelöst von der deutschen Geschichte vom »Recht auf den Tod« geredet wird, ist gefährlich. Und zwar auch in der gesellschaftlichen Linken, die eigentlich wissen sollte, dass diese Gesellschaft geradezu erpicht darauf ist, Menschen umzubringen, ob in der Sahara oder im Mittelmeer.“

Opferbreitschaft (aber bitte die anderen)

Ein Aspekt des Pandemierevisionismus ist die Verachtung gegenüber allen Opfern ME/CFS-Erkrankten. Aus der Perspektive jener, die die nach wie vor vom Virus ausgehende Gefahr kleinreden oder schlicht leugnen, sind all jene, die langfristig schwer erkranken, ein Problem. Sie sind nämlich auch Ausweis dessen, wie inhuman die rücksichtslose Aufhebung jeglichen Schutzes tatsächlich ist.

Auch daher die Psychopathologisierungen und Hysterisierungen, mit denen ME/CFS-Betroffene sich oft konfrontiert sehen. Jan Fleischhauer hat dieser ganzen Herabwürdigung u.a. von ME/CFS nun ein neues Kapitel hinzugefügt, indem er versucht, manche Erkrankungen als links zu framen: es gebe „offenbar einen Zusammenhang zwischen Krankheitsanfälligkeit und politischer Einstellung“.

Das ist ein Kategorienfehler, und vermutlich ein kalkulierter. Dazu später mehr, zunächst will ich (trotz allem, was ich über Fleischhauer weiß) mir die Mühe machen, das ernstzunehmen.

Der Kategorienfehler liegt darin, dass Fleischhauer denkt, jene, die sich öffentlich über ihre Erkrankungen äußerten, stünden repräsentativ für alle Erkrankten. Das ist selbstverständlich nicht der Fall: es gibt Diskursräume, in denen die Thematisierung von Einschränkungen, Erkrankungen und Behinderungen akzeptierter sind als andere. Dass gerade emanzipative Bewegungen innerhalb der Linken sich den Belangen chronisch Kranker nicht komplett verschließen, ist dabei nicht verwunderlich: ihr Anspruch ist es ja gerade, dass jeder Mensch zählt.

Innerhalb rechter Diskurse aber gibt es schlicht keinen Raum für kranke Menschen.

Es kommt dazu, dass Menschen, die sich eher im rechten Umfeld bewegt haben und an ME/CFS erkrankt sind, Schwierigkeiten haben, eine Position zu ihrer Erkrankung zu entwickeln. In unserem Buch beschreibt Wolfgang Hien die inneren und äußeren Kämpfe eines erkrankten Handwerksmeisters, der nun nicht einem rechten Spektrum angehört, aber gewisse Paradigmen rechter Diskurse aufgenommen hat: insbesondere etwas, das ich Heroisierung der Männlichkeit nennen würde. Jemanden, der seinen Selbstwert darüber aufgebaut hat, stark und unabhängig zu sein und zu performen, stürzt die Erkenntnis der eigenen Verletzbarkeit (und Verletztheit) unweigerlich in eine Krise. Interessanterweise äußert sich das dann bei dieser Person darin, dass sie Leute, die seine Erkrankung ignorieren oder leugnen, anschreien möchte: also in Aggression. Die reaktiven Muster zu verlernen und neue Herangehensweisen aufzubauen, wie mit der Umwelt umzugehen sei, ist etwas, das Leute mit tendenziell reaktionärem Weltbild leicht überfordert – verständlicherweise, möchte ich hinzufügen. Nicht nur muss maus sich mit einem Körper auseinandersetzen, der eine*n sozusagen im Stich lässt, nicht nur muss maus sich damit auseinandersetzen, dass das soziale Gefüge um einen herum zusammenbricht: maus muss sich obendrein damit auseinandersetzen, dass die Haltung (man könnte hier durchaus von hateung sprechen), die maus gegen die Welt gehabt hat, sich ganz plötzlich gegen eine*n wendet. Das sind schon sehr viele Kränkungen auf einmal.

Es fehlten rechten Erkrankten also an allem: es fehlt ihnen an der Sprache und der Haltung, auf die Veränderung ihrer Umstände zu reagieren. Es fehlt ihnen an einem Umfeld, dass ihnen hilft und sie stützt. Es fehlt ein Resonanzraum, in dem sie gesehen werden. Und es fehlen die Mittel, die neue Situation zu channeln.

Es ist also überhaupt nicht verwunderlich, dass Rechte entweder nicht über ME/CFS sprechen oder versuchen, ME/CFS als Post Vac zu deklarieren. Würde Fleischhauer sich für sein Thema interessieren, wüsste er das auch. Ich habe sicher mit über 70 ME/CFS-Betroffenen gesprochen, davon waren vielleicht fünf schon vor ihrer Erkrankung dezidiert links. Mindestens 30 davon waren übrigens davor in der Pflege gewesen und haben sich mutmaßlich dort mit dem Virus angesteckt: es wäre also viel naheliegender zu behaupten, Pflege sei was für Mimosen. Das hätte allerdings den Nachteil, dass (noch) niemand derart verblendet ist, das tatsächlich zu glauben.

Der ideologische undercurrent, den Fleischhauer hier mitfahren lässt, ist aber tiefer: dass Links nämlich krank sei, degeneriert. Dieses humptydumptymäßige Balancieren auf der Brandmauer ist ja so die Rolle, die Fleischhauer für sich gefunden hat; das verkauft er dann als Seitenscheitel-Punk. Das wäre lustig, wenn es ein Einzelphänomen wäre, aber Fleischhauer ist ja auch nur Mitläufer einer größeren Stichwortgebergemeinde, die in diesem Fall Leuten, mit denen ich persönlich politisch quer liegen (wie zum Beispiel dem oben zitierten Handwerksmeister) ernsthaft schaden.

Die Umdeutung der Pandemie und die Herabrwürdigung von Kranken und Behinderten geht Hand in Hand. Jene, die krank sind, als „ökonomisch belastend“ zu framen, ist eine Vorstufe der Aussonderung. Es gibt hier auch kein Vertun: Schröder und Fleischhauer wissen, was sie sagen. Das ist eine kalkulierte Eskalation.

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